Antike Überlieferungen der indischen Nationalepen Mahabharanta oder Ramayana beschreiben Mann-zu-Frau-Transsexuelle als Vermittler zwischen der Macht der Götter und den Menschen. Frau-zu-Mann-Transsexuelle werden in Indien hingegen kaum thematisiert. Schätzungsweise gibt es in Südasien mehrere Millionen Mitglieder des so genannten „dritten Geschlechts“. Weil ihnen mystische Kräfte zugestanden werden, erbringen Transsexuelle traditionell in der Gesellschaft religiöse Dienstleistungen. Im Kastenwesen rangieren sie weit unten. Sie genießen jedoch als weder Frau noch Mann eine kultische Sonderstellung. Aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stigmatisierung gehören sie zu den ärmeren Bevölkerungsschichten. Sie haben selber nur einen begrenzten Zugang zu Bildungsmöglichkeiten. Siebzig bis achtzig Prozent von ihnen können kaum oder gar nicht lesen oder schreiben. Viele wurden von ihren Familien verstoßen, damit sie der Familienehre nicht schaden können. Sie betteln um Spenden und tanzen und segnen bei feierlichen Gelegenheiten, wie Hochzeiten, meistens ohne eingeladen worden zu sein. Oft arbeiten sie im Unterhaltungsbereich als Tänzerinnen oder Sängerinnen. Meistens betätigen sie sich jedoch als Prostituierte. Obwohl es keine Erhebungen zur HIV-Quote bei indischen Transsexuellen gibt, wird diese hoch eingeschätzt.

Schmerzhafte Riten und wenig angesehene Betätigungsfelder

Hijras unterziehen sich einer schmerzhaften, rituellen Kastration, um äußerlich vollständig zu einer Frau zu werden. Diese schmerzhafte Operation wird meistens als halböffentliches Ritual ohne medizinische Versorgung durchgeführt. Kastrationen sind Ärzten im Gegensatz zu Sterilisationseingriffen verboten. Die zurückbleibende Narbe ist meistens groß. Für die betroffenen Hijras besteht große Lebensgefahr. Hijras haben oft nach dieser Kastration Probleme mit der Kontrolle des Harnhaltens. Hijras unterscheiden sich ihrer Ansicht nach von den sogenannten Kotis. Kotis sind homosexuelle Transvestiten, die ihre männlichen Geschlechtsteile behalten und die mit ihren Männern (Giriyas) in eheähnlicher Gemeinschaft zusammenleben und dabei die Frauenrolle übernehmen.

Fließende Grenzen und eigene Hijra-Kommunen

Es liegt die Vermutung nahe, dass die Grenzen zwischen Hijras und Transvestiten jedoch fließend sind. Denn auch Hijras können in einer eheähnlichen Beziehung mit Männern leben. In der Regel sind sie jedoch in einer Hijra-Kommune eingegliedert. Diese Kommunen sind hierarchisch geordnet. Als Schüler folgen mehrere Hijras ihrem Guru. Die lokale Gemeinschaft ist wiederum überregionalen Nayak (Herrscher) mit einer spirituellen Leitfunktion unterstellt. Das Geld verwaltet in der Regel die Guru-Hijra. Entsprechend ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz können sich Hijras nur im Rahmen der ihnen vorgegebenen Rollen bewegen. Eine soziale Funktion übernehmen sie auch, wenn sie Neugeborene segnen. Wenn das Neugeborene einer Familie offensichtlich intersexuell ist, nehmen sie es in ihre Kreise auf. So wenden sie gesellschaftliche Missachtung und Spott von der jeweiligen Familie ab und retten oftmals das Leben des Kindes. Nicht selten würde es sonst vernachlässigt oder weggesperrt.

Jenseits der sexuellen Dichotomie – Anerkennung eines dritten Geschlechts

Hijras erhielten erst 1994 in Indien eine Wahlberechtigung. Mittlerweile gibt es jedoch bereits einige Hijra-Politikerinnen. So zog etwa Shabnam „Mausi“ Bano 1998 als Mitglied in das Parlament des Unionsstaates Madhya Pradesh ein. Indiens Wahlkommission gestand 2009 Hijras ein drittes Geschlecht zu, indem es ihnen die Möglichkeit gab, neben „männlich“ und „weiblich“ auf dem Stimmzettel auch „anderes“ anzukreuzen. Auch der oberste Gerichtshof in Pakistan erkannte 2011 die Existenz eines dritten Geschlechts an. Weltweit sind Hijras somit nur in Indien und Pakistan als Geschlecht offiziell gleichberechtigt. Ein drittes Geschlecht gibt es sonst nur noch formaljuristisch auf der Pazifikinsel Tonga. Zu vielen Thematiken fehlt den Hijras jedoch ein gesellschaftlicher Zugang, da sie sich als drittes Geschlecht jenseits der sexuellen Dichotomie definieren. So setzen sie sich beispielsweise nicht für höhere Frauenquoten ein.
Hijras feiern von April bis Mai jährlich ein 18tägiges Festival im südindischen Dorf Kuvran. Offenes Flirten, freche Sprüche und das Spiel mit sexuellen Reizen lässt die Hijras als starken Gegensatz zu der eher prüden Gesellschaft Indiens erscheinen. In Indien wurden in den letzten Jahren zahlreiche Schönheitswettbewerbe für Hijras veranstaltet, die ein großes Medienecho fanden. Ihre Diskriminierung hält weiterhin an. Ihre medizinische Versorgung ist weiterhin prekär.

Zentrale Fragen im Kampf für Freiräume „queerer“ Lebensweisen

Das gesellschaftliche Klima liberalisierte sich besonders in den indischen Großstädten und im Zuge des Bollywood-Kinos. So basiert etwa der 2005 erschienene Bollywood-Kinofilm „Shabnam Mousi“ auf der Biographie der gleichnamigen Hijra-Politikerin. 2011 erschien in englischer Sprache bei Penguin Label die Autobiographie The truth about me von A. Revathi. In dem Buch schildert erstmals eine Hijra ihr Leben am Rande der Gesellschaft Indiens. Organisationen, wie der Humsafar Trust oder auch die 1994 in New Delhi gegründete NAZ Foundation Trust leisten in Großstädten HIV-Präventionsarbeit und bieten Beratung an. In den Großstädten entstehen LBST-Communities. Freiräume für „queere“ Lebensweisen wurden erkämpft. Bündnisse verschiedenster Interessengruppen erleben viel Zulauf. Erste Erfolge und Aussichten auf Veränderung schüren gesellschaftlichen Aktionismus. Im Juli 2011 stimmte Indien für die Verleihung des UN-Beraterstatus im UN-Wirtschafts- und Sozialrat ECOSOC an den queeren Welt-Dachverband ILGA. Trotzdem ergeben sich für die Zukunft der LBST-Bewegung zentrale Fragen:

Sehen Hijra-Aktivistinnen Berührungspunkte ihrer Thematik mit der indischen Homosexuellenbewegung? Können hier stärkere Bündnisse entstehen? Können die Entkriminalisierung von Homosexualität und Gay Prides zu mehr gesellschaftlicher Reflexion über Liebe und Sexualität führen? Kann mehr Akzeptanz gegenüber anderen Partnerschaftsmodellen und Homosexualität die sexuelle Tabuisierung und den Kreislauf aus familiär eingefädelten Zwangsheiraten beeinflussen? Wie verändern sich gesellschaftliche Strukturen? Gibt es Bestrebungen, Anlaufstellen der LBST-Community vermehrt auch staatlich zu fördern?

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