campus-web Bewertung: 3/5
   
 

Oma Otti und Karl
   
 

Holger beim Fisch-Winkler
   
1968: Die ganze Welt ist in Bewegung. Studenten protestieren gegen den Vietnamkrieg und propagieren die freie Liebe, in Prag rollen sowjetische Panzer an und in Berlin – Hauptstadt der DDR, feiert man den 19. Geburtstag der sozialistischen Republik mit Militärparaden, Marx, Engels und Lenin auf Plakaten und Walter Ulbricht auf der Tribüne. Das alles beeindruckt Oma Ottilie (Gudrun Ritter) eher wenig. Hauptsache, der Friedhof ist in Ordnung und es kommt was Anständiges zu Essen auf den Tisch, an dem häufig Enkel Holger Platz nimmt. Fünf Männer hat Otti schon überlebt und Ehemann Nr. 6 liegt nebenan im Schlafzimmer und laboriert an einer alten Kriegsverletzung. Die nächsten Verehrer machen bereits ihre Aufwartung: Altnazi und Fischhändler Winkler (Horst Krause) buhlt ebenso um Ottis Gunst wie Karl (Michael Gwisdek) – Kommunist aus tiefster Überzeugung. Otti weiß, wie man die Männer um den Finger wickelt, doch mit makabrer Literatur, Einfühlungsvermögen gewinnt Karl bald ihr Herz. Als Fisch-Winkler erschlagen in seinem Geschäft aufgefunden wird, herrscht Aufruhr im Viertel. Mord im Sozialismus? Unmöglich! Die örtliche Kripo ermittelt und vermutet den Täter unter den Gästen des Feuermelders. Holger zieht eigene Schlüsse und stößt bei seinen Nachforschungen auch auf die Geheimnisse von Revolution, Kommunismus und freier Liebe.

Matti Geschonneck zeichnet mit Boxhagener Platz ein liebevoll-nostalgisches Bild Ostberlins der späten 60er Jahre mit viel Liebe zum Detail. Beim Anblick von Oma Ottis Hausmannskost in Großaufnahme läuft einem das Wasser im Munde zusammen. Ihre angestaubte Wohnungseinrichtung wird so manchen an die eigenen (Ur-)Großeltern erinnern.
Boxhagener Platz
D 2010
Verleih: Pandorafilm
Genre: Tragikomödie
Filmlaufzeit: 103 min
Regie: Matti Geschonneck
Darsteller: Gudrun Ritter, Michael Gwisdek,
Meret Becker, Jürgen Vogel, Samuel Schneider
Filmstart: 04.03.2010


Doch typisch für den Boxhagener Platz sind nicht nur die baufälligen Häuserzeilen. Die Straßen bevölkern kuriose und schrullige Typen mit Berliner Charme und viel Pragmatismus, die ihre Zeit bevorzugt zu Hause, auf dem Friedhof oder in der Eckkneipe verbringen. Zwischen all diesen markigen Charakteren sucht der zwölfjährige Holger seinen Platz, sieht das Geschehen um sich herum wie der Zuschauer im Kinosessel. Die Welt der Erwachsenen ist ihm noch fremd, doch langsam beginnt er zu verstehen, dass es mehr gibt als Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Sozialismus und Kapitalismus.

Boxhagener Platz lebt von seinen Figuren und deren kleinen und großen Reibereien. Noch nie hat man wohl so über eine Trauerrede lachen können und schnell merkt man, dass auch Leute jenseits der 60 das Flirten beherrschen. Matti Geschonnecks Film hätte eine leichtfüßige Komödie im Stil von Sonnenallee werden können, doch gerade im letzten Drittel kippt der Film fast schon zu stark ins Dramatische, ja Unangenehme. So unterschiedlich und spannend die einzelnen Figuren auch sind - bei der Vielzahl der Charaktere verlieren sie ein wenig an Tiefe, ihre Geschichten können nur angerissen werden - Boxhagener Platz wäre die ideale Vorlage für einen Mehrteiler. Holger - eigentlicher Erzähler der Geschichte, scheint mehr zu reagieren als zu agieren - ganz entgegen dem Ratschlag Karls, über Meret Becker und Jürgen Vogel als Holgers Eltern würde man wirklich gern mehr wissen und der Ausgang der zum Teil zähflüssigen Geschichte hinterläßt die Sehnsucht nach mehr.

Trotz dieser Abstriche ist Boxhagener Platz wunderbares Schauspielkino mit spritzigen Dialogen, geprägt vom rauen Berliner Charme, das zugleich ein spannendes Stück Zeitgeschichte erzählt.

Der Film ist aktuell im Bonner Rex-Kino und im Kölner Odeon-Kino zu sehen.


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