campus-web Bewertung: 3/5
   
 

Mirren und Plummer als Ehepaar Tolstoi
   
 

Tolstois Sekretär entdeckt die fleischlichen Gelüste.
   
Vor 100 Jahren starb Leo Tolstoi - einer der großen russischen Schriftsteller, der bis heute nichts von seiner Bedeutung verloren hat. Seine Romane Krieg und Frieden oder Anna Karenina sind Meilensteine der Literaturgeschichte und bis heute Pflichtlektüre. Tolstoi wurde zur Ikone des russischen Volkes und wurde wie ein Heiliger verehrt. Ein russischer Sommer ist der erste Film, der sich dem Leben des legendären Literaten widmet. Drehbuchautor und Regisseur Michael Hoffman konzentriert sich dabei auf das letzte Lebensjahr Tolstois. Er zeigt den Menschen hinter dem Schriftsteller, den Grafen, der lieber ein Bauer gewesen wäre. Einen Mann, der zwischen ehelicher Zuneigung und innerer Überzeugung schwankt und der eine ganze Reihe von Jüngern um sich scharen konnte, die nach seinem Duktus leben wollen.

Leo Tolstoi (Christopher Plummer) lebt mit seiner Frau Sofia (Helen Mirren) und Tochter Sascha (Anne-Marie Duff) auf einem Landgut. Während er sich mit den einfachsten Dingen zufrieden gibt und sich mit dem Gedanken trägt, die Rechte an seinem Gesamtwerk nach seinem Tod dem russischen Volk zu vermachen, entfernt er sich immer weiter von seiner Frau Sofia, die an die finanzielle Sicherheit der Familie denkt. Ihr größter Widersacher ist Wladimir Tschertkow (Paul Giamatti), Leos engster Vertrauter und fanatischer Vertreter des Tolstoijanismus - einer neuen Religion, die Enthaltsamkeit und Bescheidenheit propagiert. Längst hat Tschertkows Bildnis das Hochzeitsfoto in Tolstois Arbeitszimmer ersetzt. Sofia ist außer sich und lebt ihre Hysterie weiter aus - und entfernt sich dabei immer weiter von ihrem Ehemann und seinem Vermögen, und das vor den Augen der Regenbogenpresse, die den Tolstois stets auf den Spuren ist.

Mitten im Geschehen findet sich der junge Walentin Bulgakov (James McAvoy) wieder - glühender Verehrer Tolstois und Anhänger der tolstoischen Lebenseinstellung. Während Tschertkow und Sofia versuchen, den neuen Sekretär Tolstois für ihre Absichten zu gewinnen, sieht Walentin sich noch ganz anderen Versuchungen ausgesetzt: Die schöne Mascha (Kerry Condon) interpretiert Tolstois Predigten von Freiheit und Liebe deutlich freizügiger aus, als die Tolstojaner es predigen...

Ein russischer Sommer
(The Last Station), D/RUS 2009

Verleih: Warner
Genre: Drama
Filmlaufzeit: 113 min
Regie: Michael Hoffman
Darsteller: Helen Mirren, Christopher Plummer,
Paul Giamatti, James McAvoy, Anne-Marie Duff
Kinostart: 29.01.2010


Michael Hoffman versucht mit Ein russischer Sommer einen Blick in die Seele Tolstois, eine Interpretation dieser spannenden Figur, die so facettenreich war wie ihre Romane und Erzählungen. Dabei steht ihm eine großartige Schauspielerriege zur Verfügung, die bis in die kleinsten Nebenrollen überzeugen kann. Helen Mirren steht dabei der facettenreichste Part zu: Sofia durchlebt die ganze Bandbreite von Emotionen. Sie liebt, sie haßt, sie leidet - und das laut und deutlich. Da gehen schonmal ein paar Teller zu Bruch. Christopher Plummer spielt den späten Tolstoi schrullig, verschroben und dennoch liebenswert mit stoischer Gelassenheit, die die Momente der inneren Zerrissenheit noch intensiver wirken läßt. Paul Giamatti scheint sich auf den hinterhältigen, zwielichtigen Windhund festzulegen - keine Sekunde möchte man seiner Figur gute Absichten unterstellen. James McAvoy und Kerry Condon runden das Ensemble ab - ihre jungen und frischen Charaktere sind der Hoffnungsschimmer des Films, der nicht ohne dramaturgische Schwächen auskommt.

Ein russischer Sommer beginnt leichtfüßig, amüsant und unterhaltsam, verliert aber in der zweiten Filmhälfte zunehmend an Esprit und Spaß. Nun liegt es in der Natur der Sache, dass Sterben nicht unbedingt amüsant ist, doch Tolstois letzten Tage erinnern an Papst Johannes Paul II., der von der Weltöffentlichkeit umlagert kaum seine letzte Ruhe finden konnte. Vor einem Bahnhofshäuschen lauern Reporter wie Bluthunde jedem auf, der ins Freie tritt - immer auf der Jagd nach einer Nachricht, einer Sensation. Während Hoffman zunächst seine vielschichtigen und kontroversen Charaktere gewissenhaft einführt, verliert er sie zunehmend aus den Augen, degradiert sie fast zu Statisten, die die Totenwache halten.

Dennoch ist Ein russischer Sommer gutes Unterhaltungskino und großes Schauspielkino, das einen interessanten Einblick hinter die Fassade des großen russischen Literaten wirft, dabei aber viele Fragen offen läßt und nur andeutet, welche Bedeutung Tolstoi und seinem Werk tatsächlich zukam.


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