Campus-Web Bewertung: 4,5/5
   
 

   
 

   
Ende April 1945 ist Berlin ein Schlachtfeld aus Schutthaufen, Leichen und zerplatztem Größenwahn. Nach dem Einmarsch der Besatzungstruppen wird es außerdem zum moralischem Vakuum. Max Färberböcks Anonyma – eine Frau in Berlin erzählt vom Überlebenskampf der Berlinerinnen, die den Plünderungen und sexuellen Übergriffen der russischen Soldaten hilflos ausgeliefert sind.

Die Hauptfigur (Nina Hoss) ist, wie der Titel schon andeutet, nicht mehr als "eine Frau in Berlin". Anonym bleibt sie, weil sie real ist. Für ihren Mann führt sie über die Erlebnisse der letzten Kriegstage ein Tagebuch, das schon in den 50er Jahren veröffentlicht wird. Ausgerechnet in Deutschland bleibt die Resonanz aber aus. Denn im Westen ist man noch damit beschäftigt, die eigenen Kriegsverbrechen zu verdrängen und im Osten scheint es zu gefährlich, die eigenen "Befreier" zu verleumden. Hinzu kommt die Scham der Opfer, offen über das zu sprechen, was ihnen angetan wurde. Lange verschwindet das Tabu-Thema in der Versenkung. Erst mit der Neuveröffentlichung durch Hans Magnus Enzensberger im 21. Jahrhundert bekommt das Tagebuch – und auf ihm beruht auch der Film – die Öffentlichkeit, die es verdient.
Anonyma - Eine Frau in Berlin, D 2008
Verleih: Constantin
Genre: Drama
Filmlaufzeit: 131 min
Regie: Max Färberböck
Darsteller: Nina Hoss, Yevgeni Sidikhin,
Irm Hermann, Rüdiger Vogler, Ulrike Krumbiegel,
Juliane Köhler
Kinostart: 23.10.2008


Öffentlichkeit zu suchen ist ohnehin Anonymas erste Strategie. Nachdem die ersten Frauen aus den Luftschutzkellern verschleppt und vergewaltigt werden, wendet sie sich mit gebrochenem Russisch hilfesuchend an den Offizier Andrej (Evgeny Sidikhin). "Die paar Minuten – was ist das schon?" brummt der ihr entgegen. Ein Leben in Angst beginnt für die Schwächsten in diesem Krieg. Denn an den deutschen Frauen lassen die Besatzer ihre Wut über das Unrecht aus, das sie selbst erleiden mussten. Doch Anonyma bemerkt in der Begierde der Russen das einzige Machtmittel, das ihr geblieben ist – eine groteske Chance, die eigene Ehre und Selbstbestimmung zu retten. Sie stellt sich Andrej zur Verfügung, der im Gegenzug sie und das Haus, das sie bewohnt, schützt. Eine skurrile Abhängigkeit entwickelt sich zwischen den verängstigten Frauen einerseits, die einander mit der makabren Frage "wie oft?" begrüßen und den desillusionierten russischen Soldaten andererseits, die in dieser Betonwüste vergeblich nach Vergeltung für den ganzen Kriegswahnsinn suchen. Die Gegenwart zu verdrängen wird für Anonyma zur einzigen Chance, die Zukunft zu gewinnen.

Die perverse Menschenfeindlichkeit dieser Zeit "verstehen" zu wollen, ist sowieso völlig aussichtslos. Dankenswerterweise versucht Max Färberböcks (Aimee und Jaguar) Film das gar nicht erst. Auch von Wertungen hält er sich erstaunlich frei. Nie erfahren wir offen von der Erzählerin, wie sie zum Nationalsozialismus stand. Und die russischen Soldaten werden nicht als animalische Monster gezeigt. Schockierenderweise bleiben sie menschlich und lassen sich fast beliebig durch unseren eigenen Wohnungsnachbarn austauschen. Der Film gibt keine Antworten, weder auf die Gewalt an den Opfern, noch auf die Verzweiflung der deutschen Männer, die traumatisiert vom Krieg heimkehren und daran zerbrechen, dass sie nicht in ihre Familien zurückfinden. Die Fiktion hätte es uns einfach machen können. Die Realität tut das nicht. Sie hinterlässt uns völlig sprachlos. Ein unangenehmes Gefühl, an dem man aber nicht vorbeigehen darf.

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