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Eine graue Autobahn erstreckt sich über das gesamte Blickfeld. Breite Streifen von Asphalt ziehen sich wie Adern durch die Weiten der Landschaft. Die Reifen rauschen über die Straße, Kilometer für Kilometer. Die Stimme aus dem Radio unterbricht von Zeit zu Zeit das monotone Geräusch. Es läuft Musik, es folgt ein Interview. Es wird dunkel, der Tunnel stört das Signal. Erneutes Rauschen. Von Stadt zu Stadt, einmal quer durch Deutschland. 30.000 Kilometer Strecke in vier Monaten. Unterwegs, um sie zu erforschen - die Angst der Anderen oder die German Angst. “Sind wir im Krieg?” Dirk Gieselmann & Armin Smailovic – Atlas der Angst Anschläge, Terror-Attacken, Überfremdung. “Wir sind im Krieg”. Diese Überschrift prangte im März 2016 auf der Titelseite der Bild-Zeitung. Ein vermeintlich bekanntes Land wird zu einem Land, wo die Errichtung von Mauern diskutiert wird. “Sind wir im Krieg?” Diese Frage haben sich der Journalist Dirk Gieselmann aus Berlin und der Münchener Fotograf Armin Smailovic vor einem Jahr gestellt. Auf einer viermonatigen Reise quer durch Deutschland haben sie versucht, in einem “Atlas der Angst” das Gefühl zu vermessen. Ihr Ziel, ein Land zu erforschen, das ihnen fremd geworden ist. Aus Gesprächen und Beobachtungen ist – laut Autoren - eine “Riesenreportage” entstanden, die “literarische und poetische Züge” besitzt. Bilder werden zu Texten und Texte zu Bildern. Gebündelt in einem Werk, in dem Versuch, ein Gefühl abzubilden: Die German Angst.Verlag: Eichborn Erschienen: März 2017 Genre: Politik und Gesellschaft ISBN: 978-3-847906-28-5 Bindung: Hardcover Preis: 24,00 € Auf ihrer Reise sprachen die zwei Autoren mit verschiedensten Betroffenen und Beobachtern der stetig wachsenden Angstwelle, die Teile Deutschlands bereits vor gut einem Jahr überrollte. Sie sprachen mit dem Leiter einer Küche in einem Erstaufnahmelager, einem Polizisten, einem Imam und vielen weiteren Bürgern. 100 Orte, 100 Fotos und 100 Texte ergeben zusammen den “Atlas der Angst”. Fragen über Fragen Bei einer Lesung im Rahmen der Reihe “fluchtpunkt” des Literaturhauses Köln, haben Gieselmann und Smailovic ihr Werk vorgestellt. Sie haben versucht, das weite Thema des Buches ein wenig einzugrenzen und für die Leser zu veranschaulichen. In dem “Atlas der Angst“ wollen die Autoren in einer Synergie zwischen Journalist und Fotograf das “Hörbare hörbar und das Sichtbare sichtbar machen”, hieß es bei der Beschreibung des Werkes. Einfacher gesagt als getan. Bereits vor der Lesung erschien es mir ein großes Vorhaben zu sein, ein so abstraktes und facettenreiches Gefühl wie Angst in einem Buch abzubilden. Und auch die Vorstellung des Buches durch die Autoren begann mit zahlreichen Fragen: “Was macht die Angst mit uns?”, “Was machen wir mit der Angst?”, “Woher rührt das Gefühl der Verunsicherung?”, “Wohin führt die Angst?”. Zu Beginn hat mich die Flut an Fragen überwältigt. Das soll alles in ein Buch passen? Ein ambitioniertes Vorhaben. Während der Lesung ging immer mehr hervor, inwieweit das Werk eine Art Querschnitt der German Angst ist. Eine vollständige Abhandlung zu dem Diskurs der Angst wäre in vier Monaten auch gar nicht möglich gewesen. Der Titel kann zunächst also irreführend wirken. Gieselmann bezeichnete aber gerade diesen als das Erfolgsgeheimnis des Buches, da er “wie ein Klassiker klingt”, es einen solchen Titel bisher aber noch nicht gibt. Wie ein Hörspiel Nachdem die Autoren das Grundvorhaben erklärt hatten, wartete das Publikum darauf, endlich mehr Details zu dem Buch zu erfahren. Diesen Wunsch haben Gieselmann und Smailovic schnell erfüllt und lasen gemeinsam aus dem “Atlas der Angst“ vor. Sie begannen mit der Anfangspassage und stellten einzelne, ausgewählte Beispiele aus dem Buch vor. Schloss ich die Augen, fühlte es sich an, als würde ich einem Hörspiel lauschen. Beide lasen abwechselnd mit gekonnter Intonation und Artikulation Passagen vor. Während der eine las, untermalte der andere die Darbietung an manchen Stellen mit einer leisen Flüsterstimme, um dem Ganzen noch mehr Dramatik zu verleihen. Das Thema des Buches haben die Autoren nicht nur durch reines Vorlesen vorgestellt, sondern auch in Form von kleinen Filmen und Bildern des Fotografen Smailovic verbildlicht. Die Einbindung anderer Medien verlieh der Lesung eine gesteigerte Dynamik, die im gesamten Publikum beständige Aufmerksamkeit sicherte. Diese Aufmerksamkeit spiegelte sich auch in der Fragerunde am Ende der Veranstaltung wider. Auf eine erste zurückhaltende Stille folgte an dieser Stelle ein reger Austausch zwischen Publikum und Autoren. Das Wechselspiel aus Fragen und Antworten nach der Lesung ereignete sich von Anfang an auf einer persönlichen Ebene und gab dem Ganzen dadurch eine angenehme Leichtigkeit. Eine persönliche Angelegenheit Bereits die erste Frage aus dem Publikum bezog sich auf eine persönliche Erfahrung des Journalisten Gieselmann. Vor der Lesung erzählte er in tiefer Vertrautheit von seinem Sohn, der zu verstehen versuchte, warum sein Vater sich auf eine solche Reise begeben musste. In der Anfangssequenz des Buches schildert er den Austausch zwischen ihm und seinem Sohn: “Was ist das für eine Reise, die ihr macht, fragte mein Sohn, fünf Jahre alt, am Tag des Aufbruchs. […] Wir machen eine Reise durch Deutschland, sage ich. Das ist weit, sagte mein Sohn, warum macht ihr denn so eine weite Reise? Weil wir Angst haben, müsste ich sagen, um dieses Land und vor diesem Land, und wir wollen wissen, woher sie kommt. Aber ich will meinem Sohn, fünf Jahre alt, doch keine Angst machen. Ich wünschte, ich hätte selbst keine Angst. Ich wünschte, ich wäre er.“ (Atlas der Angst, Seite 12) Das Publikum interessierte, was Gieselmann seinem Sohn unmittelbar nach seiner Rückkehr erzählt hat. Ist das Land anders als zuvor? Muss er sich Sorgen machen? Der Autor war zunächst etwas überrascht von den Fragen und gab zu, sie in dieser Form bisher noch nicht gehört zu haben. Nach kurzem Überlegen erzählte er, dass sein Sohn bei seiner Rückkehr nach Berlin einfach nur froh gewesen sei, seinen Vater wiederzusehen und sich über die anfänglichen Fragen keine Gedanken mehr gemacht habe. Diese Reaktion des kleinen Jungen konnte das Publikum gut nachvollziehen. “Ich hatte danach sogar weniger Angst.” Nach der Lesung, den Erzählungen über die Entstehung des Buches und der Fragerunde, erschließt sich mir zunehmend der Komplex, der sich hinter dem Titel “Atlas der Angst” versteckt. Ich habe eine detaillierte Bezugnahme auf den Diskurs der Angst erwartet, als ich mich im Vorhinein über das Buch informiert habe. Es handelt sich aber eher um eine grafisch aufwendig gestaltete Collage über einzelne Begegnungen mit der German Angst. In Form von Bildern und Texten haben Gieselmann und Smailovic persönliche Geschichten und Berührungsmomente von einzelnen Protagonisten mit dem Gefühl in einem Buch zusammengefasst. Für alle, die daran interessiert sind, das Buch zu lesen, empfehle ich, ganz unbeschwert und ohne steife Erwartungshaltung an das Werk heranzugehen. So könnt ihr es unvoreingenommen interpretieren. Diejenigen, die nicht gerne lesen, können den “Atlas der Angst” als Theaterstück ab Ende Juni im Thalia Theater in Hamburg erleben. Und ich kann es kaum glauben, aber Smailovic hatte nach der Reise und dem finalen Lesen des Buches “Atlas der Angst” weniger Angst als zuvor.
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