„Witwenschütteln“ nennt man in Journalistenkreisen eine der zynischsten Vorgehensweisen des Boulevardschreibers. Ist etwas Schlimmes passiert, ein Unfall, eine Katastrophe, ein Amoklauf, geht das Wettrennen um die privatesten Details von Täter und Opfer los. Die Königsdisziplin beim Witwenschütteln ist das Besorgen privater Fotos. In Zeiten des Internet ist das einfacher geworden als jemals zuvor.

Als am vergangenen Mittwoch die ersten Nachrichten über die Ticker gingen, dass im schwäbischen Winnenden ein Jugendlicher in der Albertville-Realschule Amok gelaufen sei, setzte offenbar in den Boulevardredaktionen der Republik sofort der Reflex ein, nach privaten Details zu forschen. Gegen 10 Uhr war das Unglück erstmals gemeldet worden, um 12:14 Uhr meldete die BILD-Onlineredaktion via Twitter: „#Winnenden #Amoklauf Über den Täter findet sich nichts bei MySpace, Facebook und Co. Sehr ungewöhnlich für einen 17jährigen“. Man konnte die Enttäuschung förmlich herauslesen. Im Internet kursierende Gerüchte, dass SchülerVZ das Profil des Täters unmittelbar nach Bekanntwerden des Namens gelöscht habe wurden seitens des Unternehmens nicht bestätigt. Vielleicht war der Junge tatsächlich nicht dort registriert.

Doch auch die Opfer sind nicht davor sicher, dass private Details von ihnen an die Öffentlichkeit gelangen. Allein die „Bild am Sonntag“ titelte mit Fotos aller 16 Toten und Geschichten, die ganz offenbar zum Teil aus Internetprofilen abgeschrieben waren. SchülerVZ, Wer-kennt-wen, Facebook, Kwick: Überall waren die Witwenschüttler unterwegs, um an Fotomaterial und Stories zu kommen.

So erwächst ein problematisches neues Feld im Rahmen sozialer Netzwerke. Bemerkten die Kritiker bisher meist Auswüchse wie Online-Mobbing, die angebliche Attraktivität für Pädophile und die Unmöglichkeit der Überwachung dessen, was Kinder da tun, ist nun ganz offenbar die Würde der verstorbenen Opfer solcher Katastrophen in Gefahr. Hier ist es ganz sicher an der Zeit, dass Regelungen getroffen werden, wie mit solchen Situationen umgegangen werden kann.

Artikel drucken