Vorsichtig umfasst meine Hand den granulatgefüllten Ball. Ich halte den Atem an, schwinge den Arm am Körper entlang und... der Ball fliegt knapp an der angezielten Treppenkante vorbei, kullert noch zwei weitere Stufen in die Tiefe.

Treppenkante? Stufen? Das klingt nicht nach dem gemächlichen „Alterherrensport“ des passionierten Spielers Konrad Adenauer. Bei Crossboccia ist eben alles etwas anders. Statt sich bei einem Glas Rotwein auf festgelegte Bahnen zu beschränken, wirft man nun quer durch die Stadt: Treppauf, bergab – und auch mal quer durch die Büsche. Der Ort ist egal, gleich bleibt nur das Ziel: Die eigenen drei Bälle näher am „Schweinchen“, dem kleinen bunten Zielball, zu platzieren als die Gegner.

Die Idee, Boccia „cross“, also ohne vorgegebene Bahnen, zu spielen, gibt es in Deutschland schon etwas länger: Als „Crossboule“ gibt es ihn in Hannover und Lüneburg seit 2007. Bisher verwendete man aber meist bunten PVC- oder Holzbälle.

Und diese rollen gerne auch einmal weg. „Hey, das können wir ändern“, dachte sich der Wuppertaler Student Timo Beelow. Also brachten er und Mark Cali Caliman, dem die Idee dazu schon seit einem Urlaub in Südfrankreich vor einigen Jahren im Kopf herumschwirrte, neue kontrollierbare Kugeln auf den Markt, die rascher zum Erliegen kommen.

Beide haben sich bereits zuvor mit ihren Tie-Shirts einen Namen gemacht. Inzwischen vertreiben sie ihre leicht unterschiedlichen Sportarten getrennt. „Callenge your world“, so der Crossboule C³ Slogan. Seit 2008 verkauft Caliman seine Bälle aus Leder, 2009 brachte Beelow die Crossbocciakugeln aus Baumwollstoff auf den Markt. Vom Aussehen her ähneln sie Hacky-Sacks, sind aber etwas größer und dank ihres stabilen, buntbedruckten Mantels auch deutlich widerstandsfähiger. Müssen sie auch sein, denn nicht selten fliegen sie gegen Betonwände, Hecken oder auch mal ins kalte Nass.

Combos wie bei der Playstation

Auch wenn es vom Spielprinzip noch immer an den klassische Boule und Petanquesport angelehnt ist, gibt es keine zwölfseitigen Reglements: Jeder Spieler hat drei Kugeln. Wer mit seinen Kugeln näher am Schweinchen ist, bekommt mehr Punkte. Dem ganzen die Raffinesse geben aber die optional spielbaren Combos und die Möglichkeiten der Umgebung: So schaltet die Landung auf einem gegnerischen Ball diesen aus. Eine Aneinanderreihung eigener Kugeln ist gut für die Punktzahl, und vieles mehr. Combos wie auf der Playstation. Ein klarer Hinweis auf die Hauptzielgruppe.

„Die Spielergemeinschaft wächst sehr schnell“, erklärt uns Beelow. In Wuppertal, seinem Wohnort, spielen derzeit 200 Leute cross, deutschlandweit gibt es ca. 1000 Begeisterte. Und es werden ständig mehr. Ein älterer Herr war gar so angetan, dass er innerhalb weniger Wochen 50 Sets bestellte. Sein ganzer Freundeskreis spiele jetzt.

Das ist das schöne an den Crossvarianten: Jeder kann es spielen. Ob mit der Oma im Park oder den Freunden im Parkhaus, es ist für jeden und überall geeignet. Sogar im Schwimmbecken, wie Caliman uns erzählt. „Man muss nur sehr schnell werfen, da die Bälle sonst wegtreiben.“ „Play everywhere you like“, könnte der Slogan auch lauten.

Die Aufmerksamkeit ist garantiert

Die Spieler erregen in der Stadt schnell Aufmerksamkeit. Einige Passanten wundern sich, fangen an zu tuscheln, die mutigeren trauen sich auch zu fragen. Kinder wollen sofort mitspielen. Positive Reaktionen wohin man blickt. Gerade die immer wechselnden Orte sorgen für neue Herausforderungen. Aus dem vierten Stock der Wuppertaler Universität mit Panoramablick über alle Berge und Dächer nach unten zu spielen, vergisst man nicht so schnell. „Es ist schon etwas anderes, aus zehn Meter Höhe einen Ball gezielt fallen zu lassen als ihn über zehn Meter hinweg zu werfen.

Das Tolle am Crossboccia ist einfach die Dritte Dimension, dass man auch zum Beispiel auch einmal über Bande spielen kann“, so Beelow. Liegt die Zielkugel hinter einer Mauer, bietet sich dies geradezu an und sieht auch noch formidabel aus. Zu Bruch sei bisher nichts gegangen. Nur einmal kam der Sicherheitsdienst der Universität und fragte, ob man hier etwa Scheiben einschlagen wolle. Aber nach einer kurzen Erklärung und Vorzeigen der vermeintlichen Steine löste sich alles in Wohlgefallen auf. Die Bälle sind Kinder- und Scheibensicher.

Wie in vielen anderen Crossvarianten wie Parkour, Mountainbiking oder dem „Crossgolf“, liegt auch hier der immanente Drang nach Freiheit verborgen, der Wunsch, festgelegte Grenzen zu verlassen und etwas neues aus altem zu schaffen. Sich nicht mehr einengen lassen von Spielfeldbegrenzungen, festgefahrenen Wegen, grauen Innenhöfen und zu vielen Regeln. Caliman: „Man möchte die urbane Umgebung zurückgewinnen, sie neu entdecken. Und dass, ohne lange trainieren zu müssen wie etwa bei Parkour.“ Ein Sport für jeden. Was zählt ist Spaß, Freunde und etwas Geschicklichkeit. Ich umfasse den Ball, ziele, schwinge den Arm durch... perfekte Landung. Die Mitspieler johlen. Boule und Boccia „cross“ – und die Stadt wird zum Spielplatz.

Hier und Hier findet ihr weiter Informationen.

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