Stell dir vor, du lebst in einer Welt in der dein Kind nie mehr entführt werden kann. In der kein Verbrechen ungeahndet bleibt und keine Krankheit unentdeckt. Wie weit würdest du dafür gehen?

Die 24- jährige Mae Holland lebt in so einer Welt. Sie arbeitet bei "Der Circle", einer Firma deren Ziel es ist, alles und jeden Online miteinander zu vernetzen. Niemand soll mehr anonym im Internet sein und die Kriminalitätsrate auf Null sinken. Alles was dafür aufgegeben werden soll? Die eigene Privatsphäre. Jeder Mensch soll transparent und alles auf Video aufgezeichnet werden. Jede SMS, jedes Bild, jeder Feed… in der Cloud wird alles gespeichert. Wärst du bereit so weit zu gehen?

Maes Start in ihrem neuen Job beginnt relativ harmlos. Sie soll Kundenanfragen beantworten und die Qualität ihrer Antworten werden von den Kunden auf einer Skala von 1-100 bewertet. Schnell entpuppt sich Mae als Naturtalent und bekommt immer neue Aufgaben.

Höher, schneller, weiter

Dave Eggers - Der Circle
Verlag: KiWi
Erschienen: Oktober 2015
Genre: Dystopie
ISBN: 978-3-462-04854-4
Bindung: Broschur
Preis: 10,99 €
Das besondere an "Der Circle" ist, dass das Firmengelände wie eine eigene Stadt ist, mit Wohnheimen, Läden und jedem Abend Partys und Events. Offiziell ist es jedem Circler freigestellt, ob er diese Angebote in Anspruch nimmt. Doch schon bald wird Mae klar, dass "freiwillig" bei "Der Circle" nichts weiter als eine Floskel ist. Nach mehreren Ermahnungen, sie solle sich mehr engagieren und die ganze Welt via Social Media an ihren Erlebnissen teilhaben lassen, wird es für sie zu einer Sucht. Bis sie schließlich, wie tausende von anderen Menschen, ihr Leben 24 Stunden am Tag live streamt und pausenlos direktes Feedback von ihren Zuschauern auf eine Uhr bekommt.

Das Buch "Der Circle" zu lesen, ist eine spannende Erfahrung. Erschreckend oft kann der Leser sich mit der Protagonistin identifizieren: Der Ehrgeiz, immer besser zu werden. Die Meinung von Fremden, die einem viel zu wichtig ist. Der Stolz, wenn man es fast bis nach ganz oben geschafft hat. Den Wunsch nach positivem Feedback. Als Leser ist das ein komisches Gefühl, weil im Verlauf des Buchs die Hauptperson immer unsympathischer wird. Immer öfter löst ihr Verhalten Kopfschütteln aus und trotzdem erkennt der Leser sich in ihr wieder.

Die Welt als besserer Ort oder etwa nicht?

Das Gefühlschaos ist perfekt, weil die Vorteile, die das System mit sich bringt, so verlockend sind. Es ist schwer eine Sache zu verurteilen, die sich gegen Kindesentführungen einsetzt und das Gesundheitssystem revolutioniert. Wie egoistisch wäre es von dir, nur weil du mal für fünf Sekunden Zeit für dich haben möchtest, weiteren Fortschritt abzulehnen? Und macht es dich nicht zu einem besseren Menschen, wenn du ständig unter Beobachtung stehst? Keine schlechten Angewohnheiten mehr, nie wieder ein unüberlegtes böses Wort, kein Vollrausch ohne über die Konsequenzen nachzudenken… Die Welt wäre ein besserer Ort, nicht wahr?

Vielleicht wäre sie das, höchstwahrscheinlich aber nicht. Alleine als Leser wird man durch die ständige Erreichbarkeit und das direkte Feedback auf jede Handlung der Protagonistin nervös. Er wünscht sich fast schon einen stillen Moment herbei. In einer Welt in der alles sichtbar ist, bleibt kein Platz für Ehrlichkeit und Authentizität. Keiner für echte Gefühle und aufrichtige Empathie. Es bleibt nur der Wunsch zu Gefallen und wer aneckt, muss die Konsequenzen fürchten.

Im Laufe des Buches entwickelt "Der Circle" eine Vielzahl von Innovationen. Ein Programm, mit denen vorgestrafte Kriminelle farblich von der Menge abgehoben werden. Kameras, die so klein sind, dass sie überall angebracht, aber nur schwer gefunden werden können. Die Möglichkeit, Fahndungsfotos an alle Menschen weltweit zu senden und hilfreiche Informationen direkt aus dem Netz zu filtern. Was vielversprechend klingt, bringt einige Probleme mit sich. Ein Neuanfang für Straftäter? Quasi unmöglich. Einen Moment Schwäche zeigen und für sich alleine weinen? Niemals. Im Gegensatz dazu war es noch nie einfacher sich selbst zu inszenieren.

Nicht länger Utopie

Das wirklich erschreckende an Dave Eggers Werk ist es, dass es heutzutage nicht mehr utopisch klingt. Technik ist ein Teil unseres Lebens. Es gibt fast nichts, was nicht möglich wäre. Wenn er von flächendeckender Überwachung redet, denkt heute niemand mehr daran, wie soll das gehen. Jederzeit für jeden erreichbar sein – auch nichts neues. Eine Tatsache, die auf Großes hoffen, aber das Schlimmste befürchten lässt.

Doch jeder sollte für sich bedenken: Wiegt der Trost von Millionen, den einer Mutter auf? Das Gespräch mit einem Fremden, das mit der besten Freundin? Ist ein eigentlicher intimer Moment besser, wenn er mit Menschen auf der ganzen Welt geteilt wird? Wenn jeder zu sich selbst ehrlich ist, kennt er oder sie die Antwort.

Dave Eggers Werk hat mit 550 Seiten etwas Überlänge und bewegt sich zeitweise nicht von der Stelle. Trotzdem ist es empfehlenswert, weil es zum Nachdenken anregt und sowohl die Vor- als auch Nachteile von Technik aufzeigt und damit aktueller denn je ist. Wer das Buch gelesen hat, wird sich in Zukunft zweimal überlegen, ob es in der Situation wirklich das Richtige ist, dass Handy zu zücken oder vielleicht doch lieber einfach den Moment zu genießen. Das Fortschritt, viele Dinge im Leben besser oder zumindest leichter machen kann, steht außer Diskussion. Was bleibt, ist jedoch die Frage: Wie weit ist zu weit?

Die Verfilmung von The Circle mit Emma Watson und Tom Hanks in den Hauptrollen kommt am 14. September in die deutschen Kinos.

Artikel drucken