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Es gibt ein beliebtes Kinderspiel mit dem Namen "Wer bin ich?". Jeder bekommt einen Zettel mit dem Namen einer Figur auf die Stirn geklebt. Danach muss durch "Ja" oder "Nein"- Fragen herausgefunden werden, wer man ist. "Bin ich weiblich?", "Habe ich braune Haare?", "Bin ich groß?". Im Idealfall wird am Ende erraten, welcher Name auf dem Zettel des Spielers steht. Als Cheryl klein ist, liebt sie dieses Spiel. Sie spielt es oft mit ihrer Mutter und ihren beiden Geschwistern. Doch irgendwann bekommt der Satz "Wer bin ich?" für sie eine ganz neue Bedeutung. "Bin ich eine Waise?", "Bin ich drogenabhängig?", "Bin ich geschieden, obwohl ich meinen Mann noch liebe?", "Weiß ich nicht weiter in meinem Leben?". Cheryl kennt die Antworten auf all diese Fragen. Nur die alles entscheidende Frage kann sie trotzdem lange Zeit nicht beantworten: "Wer bin ich eigentlich?"

"Strayed" bedeutet vom Weg abgekommen

Cheryls Vater ist Alkoholiker. Er schlägt die Mutter und droht auch ihr und ihren Geschwistern Leif und Karen mehrmals Gewalt an. So oft Cheryls Mutter ihn verlässt, so oft kommt sie zu ihm zurück. Erst als Cheryl sechs Jahre alt ist, zieht die Mutter endgültig einen Schlussstrich. Es folgen Umzüge und Gelegenheitsjobs. Die Familie hat nicht viel Geld. Doch die Mutter versucht alles, um die finanziellen Entbehrungen durch Liebe auszugleichen. Nach ihrer erneuten Heirat wohnen sie auf einem großen Grundstück, auf dem sie nach und nach ein Haus errichten. In ihrer Schulzeit schreibt Cheryl gute Noten ist Sportlerin, Cheerleader und wird Homecomingqueen. Danach beginnt sie - gemeinsam mit ihrer Mutter - zu studieren.

Der große Trip

Memoiren zum Thema Selbstläuterung sind nichts Neues. Dass sie ihren Plan, den Pacific Crest Trail (PCT) zu bewandern, am Ende erfolgreich umsetzt, ist auch wenig überraschend. Trotz alledem ist Der große Trip - Wild, das Buch zur Reise, durchaus empfehlenswert, denn die Autorin wirkt erstaunlich selbstreflektiert. Ihr ist bewusst, dass sie viel, was in ihrem Leben schief gelaufen ist, selbst verschuldet hat. Sie scheut sich zudem nicht zuzugeben, dass sie auch mal unangemessene Gedanken hat. Zum Beispiel, dass sie auf den Schritt des Pflegers achtet, der sich um ihre todkranke Mutter kümmert.

Dadurch, dass sie keine Überfrau ist, wirkt sie auf den Leser sympathisch. Sie schnallt sich nicht ihren perfekt gepackten Rucksack um und wandert dann die 4000 Kilometer problemlos durch. Stattdessen bleibt sie auch mal lieber im Zelt liegen oder denkt daran, auszusteigen. Als Motivation reichen ihr meist schon kleine Dinge: Die aufbauenden Worte eines anderen Wanderers oder der Ehrgeiz, sich nicht von den beiden Jungs hinter sich überholen zu lassen. Situationen, mit denen sich jeder identifizieren kann.

Dem Buch kommt zu Gute, dass Cheryl Strayed nicht nur hobbymäßig, sondern beruflich schreibt und sie weiß, worauf es dem Leser ankommt. Der Wechsel zwischen Trail-Szenen und Rückblicken aus ihrer Vergangenheit lockern das Buch auf, auch wenn es mit 440 Seiten etwas Überlänge hat. Am Ende ihrer Reise hat Strayed 1700 Kilometer zurückgelegt durch drei verschiedene Bundesstaaten und der Leser mit ihr.

Was wäre wenn...

Als Cheryl 22 Jahre alt ist, kommt es zum Bruch in ihrem Leben: Bei ihrer Mutter wird Lungenkrebs diagnostiziert und kurz darauf stirbt sie, obwohl die Ärzte ihr noch ein Jahr zu Leben gegeben hatten. Für sie ist es, als ob ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Der Rest der Familie distanziert sich immer mehr voneinander. Sie flüchtet sich in Affären und betrügt ihren Ehemann, den sie bereits mit 19 geheiratet hat. Sie lassen sich scheiden, obwohl sie einander noch lieben. Zu ihrem Uniabschluss fehlt ihr noch eine Hausarbeit, die sie nicht einreicht. Eine ihrer lockeren Bekanntschaften sorgt dafür, dass sie endgültig abrutscht und heroinabhängig wird, auch wenn sie sich dies lange nicht eingestehen will. Durch Zufall entdeckt sie in einem Outdoorladen ein Buch mit dem Titel: The Pacific Crest Trail, Volume I. Da beschließt Cheryl die Reißleine zu ziehen.


Kleine Frau, großes Kino?

Literaturverfilmungen sind eine Sache für sich. Wer ein gutes Buch liest, taucht völlig in es ein. Im Kopf des Lesers entsteht ein eigener Film: Man stellt sich die Personen vor, ihre Umgebung und fühlt mit ihnen. Dann kommt ein Hollywood-Produzent und maßt sich an, den Film tatsächlich auf Leinwand zu bringen. Natürlich fast alles anders machend, als es in der eigenen Vorstellung ist. Enttäuschung ist da vorprogrammiert. Nicht anders verhält es sich mit der Verfilmung zu Cheryl Strayeds Buch.

Der große Trip - Wild ist ein Herzensprojekt der Schauspielerin Reese Witherspoon. Vorher als Amerikas Sweetheart bekannt, wollte sie nun zeigen, dass mehr in ihr steckt. Als Produzentin und Hauptdarstellerin hat sie maßgeblichen Anteil am 2014 erschienenen Film und sie macht ihre Sache gut. Witherspoon verkörpert glaubwürdig eine überforderte Wanderin und auch optisch passt sie durchaus zu Strayeds Erscheinungsbild, auch wenn sie teilweise im Film zu gepflegt ist. Aufgrund ihrer geringen Körpergröße ist zudem der Kontrast zwischen ihr und dem Rucksack deutlich zu sehen. Auch wenn der Zuschauer das Gewicht des Rucksacks nicht selbst spüren kann, wird jedem klar, dass es eine Herausforderung ist, ihn auch nur aufzuhaben. Trotz 115 Minuten Laufzeit ist der Film relativ kurzweilig, besonders da er auf ausschweifende Panoramaaufnahmen verzichtet.

Wenn Worte mehr als Bilder sagen

Die wirklichen Schwächen des Films offenbaren sich für die Leser des Buchs. Die große Stärke der schriftlichen Fassung sind Strayeds Gedankengänge. Sie ermöglichen es dem Leser nachzuvollziehen, warum sie so handelt, wie sie es tut und mit ihr zu leiden beziehungsweise sich für sie zu freuen. Der Zuschauer des Films hingegen ist eher ein stiller Beobachter. Eine wirkliche Bindung zur Protagonistin entsteht nicht. Zudem erscheint Strayeds Reise im Film deutlich einsamer und gradliniger als sie in Wirklichkeit war. In Wahrheit machte sie viele Abstecher vom PCT. Mal, weil es nicht anders ging, mal, weil sie gerne wollte. Zudem traf sie eine Vielzahl von Menschen mit denen sie sich anfreundete und die sie zum Teil auf ihrer Reise begleiteten. Als Leser weiß man zwar, dass im Film nicht alles eins zu eins übernommen werden kann, doch die Szenenauswahl irritiert. Schlüsselszenen aus dem Buch werden gar nicht oder kaum erwähnt und zum Teil Handlungsstränge zusammengelegt oder in einen anderen zeitlichen Rahmen gesetzt, so dass die Dramaturgie verändert wird. Der Tod ihrer Mutter, einer der prägendsten Momente im Leben von Strayed und der Auslöser ihrer Abwärtsspirale, wird im Buch bereits auf den ersten fünf Seiten erwähnt, im Film jedoch erst nach 50 Minuten angesprochen. Ähnlich verhält es sich mit ihrem Drogenproblem.

Wer Cheryl Strayed, ihre Reise und ihr Leben besser kennenlernen will, sollte somit unbedingt aufs Buch zurückgreifen. Auch wenn der Film für sich allein betrachtet nicht schlecht ist, verkörpert er nur rudimentär, was es für sie bedeutete auf den PCT zu wandern.

Hearts Don’t Break Around Here

Der PCT ist ein 4279 Kilometer langer Wanderweg. Er reicht von der Grenze Mexikos bis nach Kanada. Der durchschnittliche Wanderer bereitet sich akribisch auf die Durchwanderung vor. Er unternimmt verschiedene kleinere Probewanderungen. Lernt, was es zum Überleben braucht, welche Rucksäcke am leichtesten sind, spart genug Geld und kehrt am Ende wieder in sein geregeltes Leben zurück. Nicht so Cheryl. Zwischen ihrem Entschluss und der wirklichen Ausführung vergeht kein Jahr. Sie verkauft all ihr Hab und Gut und weiß noch nicht einmal, wo sie nach der Reise wohnen wird. Ihr Rucksack steht ihr in Größe und Gewicht kaum etwas nach. Sie hat an alles gedacht: Kamera, Bücher, Kondome… Wie wichtig, der richtige Brennstoff für einen Wasserkocher und passende Schuhe sind, hat sie allerdings nicht bedacht.

Liebe, das Leben und andere Katastrophen

Cheryl Strayed ist mit ihrem Leben wieder im Reinen. Vier Jahre nach ihrer Wanderung lernte sie ihren späteren Ehemann kennen. Mit ihm bekam sie zwei Kinder namens Carver und Bobby, benannt nach ihrer Mutter. Seit ihrer Reise konnte sie ihren Traum, Schriftstellerin zu werden, wahr machen und mehrere Bücher veröffentlichen. Ihr aktuelles Projekt ist Dear Sugar. Ein wöchentlicher Podcast bei dem sie, gemeinsam mit dem Autor Steve Almond, Briefe von ihren Hörern beantwortet und Ratschläge gibt. Eine Auswahl davon präsentiert sie in ihrem Werk Der große Trip zu dir selbst: Ungeschminkter Rat für die Liebe, das Leben und andere Katastrophen. In Briefform führt sie Dialoge über Probleme aller Art, egal ob es um Verluste, Liebe, Geld oder Familie geht.

Das Leben ist kompliziert und das von niemanden perfekt. Jeder Mensch hat seine eigene Last zu tragen. Nicht jedes Problem lässt sich sofort lösen. Nicht immer ist einem bewusst, dass es überhaupt ein Problem gibt. Nicht immer gibt es jemanden zum Reden, der einen versteht oder überhaupt ernst nimmt. Auch Strayed hat in ihrem Leben viel durch gemacht. Sie kennt das alles. Sicherlich lässt sich darüber streiten, ob unbedingt sie dafür geeignet ist, einen Ratgeber zu schreiben. Sie traf eine Menge schlechte Entscheidungen sowohl vor ihrer Reise, als auch währenddessen, und höchstwahrscheinlich auch danach. Doch darauf kommt es gar nicht an.

Die (nicht) stille Zuhörerin

Wer sich an einen Ratgeber wendet, möchte meistens gar keinen Ratschlag, sondern einfach reden. Für viele wirkt es schon befreiend, laut auszusprechen oder aufzuschreiben, was sie belastet. Es reicht ihnen, zu wissen, dass es irgendwo jemanden gibt, der das Gleiche durchmacht, der die eigenen Probleme nicht banal findet und dass sich ein Wildfremder die Zeit nimmt zu sagen: "Kopf hoch, alles wird gut."

Weder das Buch noch der Podcast bieten fesselnde Unterhaltung, doch wer auf der Suche nach Gleichgesinnten ist, wird höchstwahrscheinlich fündig. Die großen Pluspunkte sind die Themenvielfalt und die einfache Sprache. Der Podcast ist zwar nur auf Englisch verfügbar, doch auch für Nicht-Muttersprachler gut zu verstehen. Zudem gibt Strayed die ein oder andere Anekdote aus ihrem Leben preis, die im Buch nicht oder nur kurz behandelt wird.

Pechmarie oder Königin?

Cheryl hat auf ihrer Reise mehr als nur Glück. Schmerzen, Blutergüsse, Blasen und Schrammen sind zwar ihr ständiger Begleiter, doch etwas wirklich Schlimmes stößt ihr nicht zu. Die Menschen, die sie während ihrer Reise trifft, meinen es gut mit ihr. Die Hiker, die ebenfalls auf dem PCT wandern, geben ihr wertvolle Ratschläge, entmisten ihren Rucksack oder zeigen ihr, wie ein Eispickel richtig benutzt wird. Auch während dem Trampen geschieht ihr nichts. Gefährliche Tiere, wie Schlangen und Bären, nehmen sie nur zur Kenntnis. Nicht umsonst bekommt sie von den anderen Hikern einen Spitznamen: "Königin des PCT".

Am Ende wird alles wieder gut, und solange es uns nicht gut geht, können wir das Ende nicht sehen

Strayed bedeutet vom rechten Weg abgekommen. Nicht umsonst wählte Cheryl diesen Namen nach der Scheidung für sich aus. Würde man sie fragen, ob sie heute alles nochmal genauso machen würde, würde sie dies vermutlich verneinen. Zu viel lief dafür falsch in ihrem Leben, nicht nur durch unbeeinflussbare Faktoren, sondern auch durch mehr oder weniger bewusst getroffene, schlechte Entscheidungen. Umso beeindruckender ist es, wie sie ihr Leben von Grund auf änderte. Zu erkennen, dass man ein Problem hat, ist eine Sache, aber auch die Kraft zu haben, etwas zu ändern, eine ganz andere. Nicht für jeden ist es das Richtige, sich, ganz auf sich allein gestellt, aus einer Krise zu kämpfen. Als Frau ohne Unterstützung auf dem PCT zu wandern, kann der ein oder andere als naiv bezeichnen. Doch für Cheryl Strayed war es genau das, was sie gebraucht hat. Sie musste erst ganz unten angelangt sein, um wieder den rechten Weg zu finden. Für diese Anstrengungen und ihren ehrlichen Umgang mit ihren Fehlern verdient Cheryl Strayed jeden erdenklichen Respekt.


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