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Zum neunten Jahrestag der Anschläge auf das New Yorker World Trade Center sind sie wieder in den Medien: Wörter wie Kulturkampf, Intoleranz, Islamophobie, Misstrauen. Anlässe zur nationalen Identitätssuche, zur Abgrenzung zwischen ‚uns‘ und ‚denen‘ gab es in diesem Jahr genügend. In Deutschland quält man sich durch die Sarrazzin Debatte, in den USA gehen erbitterte Gegner des geplanten Baus eines islamischen Gemeindezentrums auf die Straße: 250 Schritte – so hat es Die Zeit ausgerechnet – seien zu nah am Ground Zero, dem angeschlagenen Herzen der US-Metropole. Der Puls der Medien schlägt bei solchen Ereignissen höher. Es wird Stimmung gemacht. Streitherde entfachen und werden nicht selten auf Titelseiten ausgetragen. Da hat Susanne Gaschke nicht ganz unrecht, wenn sie auf der Titelseite der Zeit schreibt, dass nur wenig Raum für „kleinere, stillere Veränderungen in der Gesellschaft“ bleibt. Erfrischende Alternative Die stillen Veränderungen kommen im digitalen Zeitalter häufig durch alternative Plattformen ans Tageslicht. Der Stand-Up Komiker Bassam Tariq und der Filmemacher Aman Ali haben es vorgemacht. Die beiden New Yorker begaben sich vom 11. August bis zum 11. September auf eine ungewöhnliche Reise durch die USA. Innerhalb der 30 Tage des Ramadans, an dem Muslime von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang fasten und enthaltsam leben, besuchten sie 30 Moscheen. Ihre Reise begann in New York und führte sie über die Ostküstenstaaten nach Kalifornien und wieder zurück durch das Landesinnere bis nach Detroit. Insgesamt legten die Glaubensbrüder fast 21 000 Kilometer zurück. Die Mission der beiden war deutlich: „Es ist an der Zeit für Muslime, ihre eigenen Geschichten zu erzählen“, so Bassam Tariq auf der Homepage von Al Jazeera English. Die Geschichten, die der Blog erzählt, sind erfrischend anders. Überraschend natürlich erzählen die beiden Autoren von Flüchtlingsproblemen in Maine und den alltäglichen Problemen muslimischer Einwanderer und deren Nachfolgegenerationen. An erster Stelle steht das Problem der Versorgung. Um die Familie zu ernähren, lösen sich manche Muslime von islamischen Geboten. So sorgte die Geschichte von Amanullah, der seit 29 Jahren in Las Vegas in Casinos arbeitet, für besonders großes Feedback der Blogleser. Denn der Islam verbietet das Glücksspiel, doch Amanullah will durch das hier verdiente Geld seinen Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen. Kurios und ergreifend Neben den alltäglichen Problemen zeigt der Blog die tiefe Verbundenheit zur Religion und deren Verständnis. Nicht immer tiefgründig und investigativ, dafür aber menschlich und einfühlsam. So erzählt der erblindete Sheikh Kaleem in Milwaukee, dass Allah die Macht hätte die Fähigkeit des Sehens zu verleihen und sie wieder wegzunehmen. „Zu behaupten, blind zu sein, sei ein Problem, wäre die Verleugnung von Allahs Willen“, sagt Kaleem zu den Blog-Autoren. Mehr als einmal dürfte den Bloglesern jedoch auch ein Lächeln über die Lippen gegangen sein. Sei es wenn die beiden Autoren zu Phil Collins Liedern in ihrem Auto mitsingen, Cowboy-Stiefel unter den traditionellen Abayas hervorblitzen oder wenn der 80jährige Sheikh Abu Omar die Zunge für ein Foto rausstreckt und sich mit den Worten verabschiedet: „Es ist Zeit, meine Antibabypille und eine Viagra zu schlucken.“ Interreligiöse Begegnung Doch Bassams und Amans Blog erzählt nicht nur von muslimischen Amerikanern. Gerade das Aufeinanderprallen fremder Kulturen, Religionen und Einstellungen birgt die spannendsten Momente. Brenzlig wird es, als ein Polizist die Reisenden nachts anhält und Bassam ihn über seine Meinung zur sogenannten „Ground Zero Moschee“ befragt. 67 Kommentare setzten sich mit Bassams Antwort auseinander, die Moschee würde zur falschen Zeit am falschen Ort gebaut. Er hatte die Antwort gegeben, um weiteren Probleme mit dem Polizisten aus dem Weg zu gehen. Interreligiöse Begegnungen finden vor allem in Memphis statt. Hier wohnen Chip und Eunice Ordman. Chip ist jüdisch und seine Ehefrau ist Christin. Beide nehmen regelmäßig an den Freitagsgebeten in der Moschee in Memphis teil und fördern innerhalb der Memphis Interreligious Group den Dialog zwischen den unterschiedlichen Religionen. Interreligiöser Dialog vollzieht sich auf dem Blog selber durch die Kommentare. So kommentiert der Blogleser Dave aus Florida, dass er durch Bassams und Amans Berichte Abstand von Verallgemeinerungen nehmen würde. Radikale Islamisten hätten mit amerikanischen Durchschnitts-Muslimen genauso wenig zu tun wie pädophile Priester mit amerikanischen Durchschnitts-Christen. Und auf die Reaktion von einer Leserin namens Rumsha, dass sie nun Hoffnung habe, nicht mehr wegen ihres „Stück Stoff auf dem Kopf“ verurteilt zu werden, entgegnet ihr Dave: „Hey, ich trage auch ein Stück Stoff auf meinem Kopf. Es nennt sich Baseball Cap.“ Identitätsfindung Ob kurios oder ergreifend, die Geschichten, aber auch die Fotos zeichnen ein Bild von den USA, das in den Massenmedien nur selten beschrieben wird. Bassam und Aman blicken als Bürgerjournalisten auf die nationale Identität des Landes und kommen zu dem Ergebnis, dass es eine einheitliche amerikanische Kultur nicht gibt. „Wir sind ein Amalgam von verschiedenen Ländern, Kulturen und Stämmen, und wir verändern uns fortwährend. Was wir heute als Amerika betrachten, kann in zehn Jahren schon wieder ganz anders aussehen“, resümiert Bassam. Amanullah, Sheikh Kaleem, das Ehepaar Ordman und auch Dave aus Key West: Sie alle stehen für diese bunte Mischung aus Kulturen, Religionen und Lebenseinstellungen. Das ursprünglich Fremde, das in manchen Schlagzeilen um den 11. September bekämpft wird, wird hier zum Teil der eigenen Identität. Die Geschichten eröffnen eine neue Perspektive auf die Frage, wer die USA sind, aber auch, wer wir in Europa sind. „Europäer schimpfen gerne auf die USA für ihre manchmal engstirnigen Handlungen. Aber ich will diese Menschen herausfordern und ihre eigenen Grenzen zur Akzeptanz von fremden Kulturen testen“, sagt Bassam. Es ist diese weltoffene Perspektive auf die eigene, sich stets wandelnde Identität, die den Blog für seine Leser anziehend macht. Von der alternativen Plattform sind die Geschichten jedoch längst gewichen: CNN, ABC, Al Jazeera English oder lokale Tageszeitungen berichteten über Bassams und Amans Reise. So hat eine Anfangs stille Veränderung über einen Umweg doch in der massenmedialen Öffentlichkeit Platz gefunden und fordert so das Selbstverständnis eines jeden Landes heraus. Hier geht es zum Blog.
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