Flimmernd: Filmreihe ‚Schlaglicht Barcelona’: Kölner Filmhaus zeigt ‚Mañana al mar’ .
Es ist Winter in der Großstadt: Alles ist grau, kalt und nass. Auf der Straße laufen Menschen in Mäntel gehüllt, aneinander vorbei. Kaum jemand lächelt, niemand lacht. Es sind Leute, die sich nicht kennen, sich nicht grüßen und einander keines Blickes würdigen; man ist stumm und blind. – Ein Klischee, das sicherlich nicht auf eine Stadt wie Köln zutrifft. Und erst recht nicht auf Barcelona, der zweitgrößten Metropole Spaniens.
Dass ein Winter in der Großstadt Barcelona nicht nur anders sein kann, sondern auch anders ist, beweist Ines Thomsen mit ihrem Film Mañana al mar (‚Morgen am Meer’). Die preisgekrönte deutsch/spanische Dokumentation aus dem Jahre 2006 zeigt den einsamen Strand von Barcelona im Winter, der einer älteren Strandgemeinschaft als Lebensraum dient. Die Protagonisten des Films sind Rentner. Es sind liebenswerte und lebendige Individualisten; ihre Leidenschaft zieht sie jeden Morgen zum Meer: Der 76-jährigen Paulina kann die Kälte nichts anhaben, wenn sie das ganze Jahr über im Meer badet. Während sie mit kraftvoller Stimme spanische Boleros, Lieder aus vergangener Zeit, singt und Pirouetten in die Wellen dreht, vergisst sie ihre Gebrechlichkeit und den Tod: An ihre Krücke, die am Ufer auf sie wartet, denkt sie nicht mehr. Denn hier kann sie ihrem verstorbenen Mann so nahe sein, wie sie es Zeit seines Lebens wohl nie sein konnte. Und eines Tages, so hofft sie, wird die Brandung sie verschlucken. Aber solange sie noch den Weg zurück zum Ufer schafft, fühlt sie sich lebendiger und schöner als manch Anderer in jungen Jahren.
Ähnlich wie José (87), der trotz seines hohen Alters und diverser Krankheiten, regelmäßig am Meer joggen geht. Seine deformierten Füße tragen ihn noch kilometerweit den Strand entlang. Und auch wenn er sich auf der Promenade mit seinen Freunden unterhält, strotzt José vor Vitalität und Lebensfreude: Mit geistiger Schärfe erzählt er skurrile Anekdoten, mit Humor spricht er über den Tod, wohlwissend, dass dieser raue Winter am Meer sein letzter sein könnte. Wenn sich Paulina und José treffen, dann lachen sie gemeinsam über das Leben und Sterben: „Wir zählen die Tage.“ Auch der 83-jährige Antonio scheint hier am Strand von Barcelona mit sich und der Welt Frieden geschlossen zu haben. Aus kantigen Felsblöcken hat er sich auf der Mole mit Zement und Beharrlichkeit ein Wohnzimmer gebaut. Von seinem Steinthron blickt er allmorgendlich auf das Meer. Das einzige, was ihm in diesem kalten Winter fehlt, ist Gesellschaft. Doch geduldig wartet er und genießt die Stille, denn im Sommer werden seine Freunde wiederkommen – und mit ihnen die Touristen, die Barcelona im Winter nicht zu würdigen wissen.
Für die Rentner bedeutet der Strand von Barcelona nicht Urlaub, sondern Zuhause. Dort treiben sie Sport, hier vertreiben sie sich die Zeit mit Domino-Spielen und Philosophieren über das Leben und den Tod, über das Wetter und die Strömung. Sie alle sind durch ihre eigenwillige Liebe zum Meer miteinander verbunden, sie alle trotzen Wind, Wetter und Zeit. Und ihre alltägliche Begegnung mit dem Meer erhält eine fast rituelle Dimension. Wie die Möven und Tauben, Krebse und Asseln gehören diese Menschen – selbst Wunder der Natur – zum Stadtstrand Barcelonas dazu. In ihrer Liebe zum Detail fängt die Kamera das Glitzern des Meeres und die Regentropfen auf dem Wasser ein, ebenso wie die welken Körper der alten Menschen und das Krabbeln der Kellerasseln. Dabei verlässt ihr Blick nie den Strand, den sie als natürlichen Lebensraum offenbart. Die Bewegung des Meeres prägt den Rhythmus des Films. Man hört die Laute der Tiere und die Stimmen der Menschen. Das Rauschen der Wellen ersetzt die Musik.
Ines Thomsen lässt Menschen und Meer sprechen, 83 Minuten lang. Ihr Dokumentarfilm stellt uns eine alternative, individualistische Lebensweise im Alter vor. Zugleich schlägt er uns vor, wie sich das Leben unabhängig vom Alter, vom Lebensraum, von der Jahreszeit und vom Wetter lohnen kann. Selbst das Meer ist nur Metapher, Metapher für das zeitlose Glück und die unendliche Liebe. Der überaus poetische Film Mañana al mar lädt zu meditativer Entspannung ein, er schürt das Fernweh im Kinobesucher und weckt seine Liebe für die Stadt Barcelona und deren Einwohner.
Ein Film wie Mañana al mar kann einen Beitrag zur Kultivierung des Films leisten und ebenfalls zu einer starken interkulturellen Verbindung zwischen Deutschland und Spanien beitragen. Im Rahmen des 25-jährigen Bestehens der Städtepartnerschaft zwischen Köln und Barcelona veranstaltete das Kölner Filmhaus vom 18. bis 22. Juni die Filmreihe Schlaglicht Barcelona. Hierzu wurden Spielfilme und Dokumentationen vorgeführt, die das Leben der Menschen in Barcelona und deren Liebe für ihre Stadt thematisieren: Außer Mañana al mar und verschiedenen Kurzfilmen zeigte das Filmhaus auch die tiefsinnige Komödie El cant dels occells (Birdsong) und Woody Allens neuesten Kinohit Vicky Christina Barcelona sowie die preisgekrönte Langzeitdokumentation FC Barcelona – Jahr der Entscheidung.
Schade nur, wenn das Publikum ausbleibt. Die Menschen in Köln strotzen – besonders im Karneval und Fußballstadion – an Lebensfreude und Energie, ähnlich wie die jung gebliebenen Rentner am Strand von Barcelona: Die Kölner haben die Sonne im Herzen, bei den Katalanen scheint sie zumeist innen wie außen. Doch egal ob Sommer oder Winter: einen ‚Morgen am Meer’ erlebt man in Köln nur im Kino.