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Manche Veränderungen kommen über Nacht. Man steht morgens auf und die Welt hat sich verändert. Doch plötzlich begreift man, dass nicht die Welt eine andere ist, sondern dass man sich selber verändert hat. Der Blickwinkel ist neu, der Horizont ein anderer. Es gibt viel zu entdecken und vieles davon ist schmerzhaft. Der Alltag erweist sich als Mosaik von Gewohnheiten: alle scheinen entbehrlich, alles um einen herum kann grausam zerbröckeln. Zwingende Fragen werden zu mitleidlosen Unwägbarkeiten: Wie begegnet man der Verführung? Kann man die Verletzbarkeit anderer einschätzen? Wie viel setze ich aufs Spiel? Welche Gefahr ist noch zumutbar? Wie viel Kraft schöpfe ich in mir? Pulitzer- und PEN/Faulkner-Preisträger Michael Cunningham erzählt seinen jüngsten Roman In die Nacht hinein erneut mit ungefilterten Bewusstseinsströmungen seiner Charaktere. Die Erzählperspektive wird bestimmt von Peter Harris, einem Mittvierziger und dem Betreiber einer Kunstgalerie. "Die Welt hat immer das Frische verehrt. Verdammt sei die Welt." Es sind Einsichten, Gedanken und Träume des Galeristen, die zu Beginn anrühren und einen Neuanfang ankündigen: "Peter liebt die Zeit, in der die Galerie nicht von Kunst in Beschlag genommen wird. Der schmucklose, perfekte Raum verspricht eine Kunst, die besser ist als das, was irgendein Mensch produzieren kann, egal, wie genial es ist; es ist die Stille, bevor das Orchester einsetzt, das Dämpfen des Lichts, bevor sich der Vorhang hebt." Den Beginn des Neuen preisend, setzt der Erzähler wiederholt der Attraktivität der Jugend einen wahrgenommenen Verfall im Alter gegenüber. Hier zieht er oftmals Bezüge zur Kunstgeschichte und es heißt beispielsweise über das Gemälde der Olympia von Édouard Manet: "Kaum jemand weiß noch, und niemand schert sich darum, dass Olympia Manets Hure war, obwohl man jeden Grund hat, sich vorzustellen, dass sie im Leben töricht, vulgär und nicht ganz hygienisch war (Paris in den 1860er Jahren, nicht zu vergessen). Sie ist heute unsterblich, sie ist eine große historische Schönheit, die durch die Aufmerksamkeit eines großen Künstlers sauber geschrubbt wurde. Und okay, wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Manet sie nicht etwa zwanzig Jahre später gemalt hat, als die Zeit angefangen hatte, ihr Werk zu tun." Peter fängt an, heimlich für den 23jährigen Bruder seiner Frau Rebecca zu entbrennen. Der jüngste Spross der Familie Rebeccas kommt vorübergehend in der Wohnung des Pärchens unter. Wegen seiner lockeren Lebensart und der früheren Drogenabhängigkeit gilt Ethan, den alle nur Missy nennen, als Problemfall. Die Unkonventionalität des Schwagers bewundernd, nimmt Peter in seinen alltäglichen Handlungen voller Überdruss eine Festgefahrenheit wahr. Streben nach dem Unerreichbaren Michael Cunningham – In die Nacht hinein Verlag: btb Verlag bei Random House Genre: Liebesroman Original: By Nightfall (2010) Übersetzung: Georg Schmidt Erschienen: Dezember 2012 ISBN: 9783442742936 Bindung: Paperback Seiten: 320 Preis: 9,99 € Direkt bestellen Obwohl Peter sein Begehren durchaus als unerfüllbar begreift, vermag er nicht, die Gedanken an den Schwager auszublenden. Er beginnt, seine Hingezogenheit zu Ethan auf eine künstlerische Ebene zu verlagern. Eines Nachts begegnet er dem völlig entblößten Schwager in der Küche. Er schützt sich vor eigenen Gefühlsregungen, indem er ihn als ein noch ungeformtes Kunstwerk betrachtet: „Missy dreht sich um. Er hat Peter kommen gehört. Er steht aufrecht auf beiden Beinen, lässt die Arme herabhängen, und Peter denkt kurz an den Visible Man, das durchsichtige Plastikmodell mit den farbigen inneren Organen, das er mit zehn liebevoll gebastelt hat und das seinem zehnjährigen Verstand so vorkam, als wäre es vom Göttlichen berührt. Es kam ihm so vor, als könnten Engel so aussehen, vergiss die Gewänder und die wallenden Haare, ein Engel wäre makellos transparent, ein Engel würde vor einem stehen, wie der Visible Man, so wie jetzt Missy, und sich darbieten, weder beschwörend noch reserviert, einfach präsent und nackt und real.“ Immer wieder ist Peter darum bemüht, sich klarzumachen, dass er seine Frau einmal ebenso jung, unschuldig und begehrenswert fand. Er versucht Ethan als Inkarnation seiner Gattin zu begreifen und seinen Galeristenaufgaben routiniert nachzukommen. Als Ethan ihm dann jedoch von sich aus eine Liebeserklärung macht, gerät Peter in einen Gewissenskonflikt. Die Welt bricht auseinander und es fällt nun wiederholt leitmotivisch der Satz: „Schlagen auf einen Zuber, um einen Bären zum Tanzen zu bringen.“ Verzeihung - "wenn wir die Sterne zu Mitleid rühren würden..." Großzügig liest man über langatmige Fahrtwegs- und Landschaftsbeschreibungen hinweg, die Cunninghams Stream of Consciousness-Technik geschuldet scheinen. Denn In die Nacht hinein ist eine eingängige, vieldeutige Lektüre, wie eine Liebeserklärung an das Leben. Es geht dabei immer um die großen Dinge des Daseins: um Vertrauen, Kunst, Anziehung und Vergänglichkeit. Unwägbarkeiten lodern und locken, bis sie sich als ungreifbar erweisen. Am Ende möchte Peter das Vertrauen der langjährigen Lebensgefährtin widergewinnen. Doch auch diese Beziehung gilt es neu zu formen, zu pflegen und zu ordnen. Wie gewinnt man jemanden zurück, den man schon verloren glaubte? Ein Trugschluss, betrogen im Spiel - die Hoffnung stirbt ja bekanntlich immer zuletzt.
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